Mittwoch, 9. September 2015

Das "Zimmer mit Aussicht"

Seit zweieinhalb Monaten befinde ich mich auf einer unfreiwilligen Rundreise durch Berlins Ferienwohnungslandschaft. Rollen wir das Feld von hinten auf und beginnen (fast) am Schluss.

Diese Zeilen schreibe ich im Wintergarten meines aktuellen Domizils, einem "ZIMMER MIT AUSSICHT", um beim Filmthema zu bleiben (siehe "Berlin bewohnen").

Unter mir pulst das Leben auf der Schönhauser Allee. Ich schaue auf die Kulturbrauerei ein Stück die Straße hoch und das Lapidarium/den jüdischen Friedhof schräg gegenüber. Ich kann dort den Bäumen beim Grüner-werden zusehen. 

Wie schön muss es hier in ein paar Wochen sein? Oder im Herbst, wenn das Laub sich verfärbt?

Ich werde es nicht zu sehen bekommen, denn in ein paar Tagen verlasse ich die kleine Wohnung wieder. 



Das Apartment hat allerdings nicht nur Aussicht, sondern auch Geschichte, eine traurige noch dazu. Ich bin darüber "gestolpert", als ich den Müll in den Hof runterbringen wollte. In der Durchfahrt und an einem Stück alter Steinmauer stehen Gedenktafeln. 

Was ich dort gelesen habe, hat mich berührt.



Dort, wo ich jetzt den Ausblick genieße, stand einst ein Waisenhaus für jüdische Kinder. Es wurde von Baruch Auerbach gegründet und ist 1897 in die Schönhauser Allee gezogen.

Bis zum Herbst 1942 ist es für 80 Kinder ein "Elternhaus für Waisen" und während des Dritten Reiches für die Menschen, die hier lebten, eine "Insel im braunen Meer" gewesen. So schildert es ein Überlebender. Er war wie die übrigen Zöglinge und Erzieher nach Riga deportiert worden. Die meisten kamen nie zurück.

Bei Bombenangriffen ist das imposante Backsteingebäude 1943 zum großen Teil zerstört worden. Nur der Mauerrest im Hof ist erhalten geblieben. Jetzt steht hier ein nicht ganz so hübscher 50er-Jahre-Bau.

Rührend ist, dass das Andenken an das Auerbachsche Waisenhaus gewahrt wird. Es begegnet den Bewohnern täglich, wenn sie den Hof betreten, an der Mauer entlang gehen oder sogar vor ihr im Schatten eines Baumes kurz Platz nehmen. Vielleicht halten sie ein wenig inne und lesen die Namen der Opfer des Nationalsozialismus, die vor einigen Jahrzehnten da lebten, wo sie jetzt wohnen?



In memoriam 
Hanna Cohn (4) 
und alle anderen, die ihr Zuhause hier für immer verloren haben

(Beitrag ursprünglich vom 13. April 2015)

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